Aus­ga­be 5/6 • 2015

Alle in einem Boot

Editorial

Ohnmacht und Versagen von unzeitgemäßer Politik
Meist wird das Urteil ja moderater, wenn man etwas Abstand gewinnt. Man ist bereiter, das Sowohl-als-Auch in Betracht zu ziehen. Die ganze Aufstellung tritt in den Blick. Im Hinblick auf gravierende Ereignisse in der letzten Zeit aber stellt sich Konzilianz leider nicht ein. Zu schwer wiegt die Kritik am Verhalten der verantwortlichen Kräfte. Mil­dern­de Umstände sind nicht zu erkennen. Es geht um die Ideologie.Angela Merkel ist eine erstklassige Kanzlerin. Sie hat mit ih­rer Autorität wiederholt dafür gesorgt, dass aus großen Krisen keine gro­ßen Katastrophen wurden. Doch das ist in Anbetracht der akuten Herausforderungen zu wenig, die ihrerseits nur Vorboten der künftigen Standards von Herausforderungen sind. Die reine Verwaltung prekärer Zustände reicht nicht aus, wenn diese das Potential haben, die gesamte Ordnung des Staates und von Staatengemeinschaften über den Haufen zu werfen. Die Politik möge sich ein Beispiel an der Wirtschaft nehmen. Während Unternehmen auf dem ganzen Planeten damit beschäftigt sind zu lernen, in globalen Dimensionen zu denken und zu handeln, wozu gehört, sich unter komplexen, dynamischen Bedingungen klug und konsistent auf diversen Märkten zu organisieren, gibt es in den Köpfen der Spitzenleute und der Parlamente in den westlichen Demokratien, bei Monarchen, Autokraten und bei Diktatoren keine Evolution. Politik wird wie in der Steinzeit gemacht, nämlich opportunistisch und wertfrei geprägt von kurzfristigen nationalen Interessen. Dass Werte strategisch behauptet werden, ist kein Widerspruch. Nebelkerzen angeblicher Anständigkeit, Gerechtigkeit und Humanität werden von vielen Akteuren im öffentlichen Raum geworfen. Am meisten malträtiert wird der arme Freiheitsbegriff als Deckmantel von Macht.

Modern gedacht, beruht die Idee von Staaten auf einem statischen Konzept, indem sich Men­schen mit überwiegend ähnlichen Merkmalen Grenzen und Identitäten geben. Die Sache geht so lange gut, wie Minderheiten, Nachbarn oder su­pranationale Gruppen dies akzeptieren. Was es bedeutet, wenn die Duldung verloren geht, erleben wir seit Jahren und gerade sehr intensiv in neuer Qualität. Der islamistisch fundierte Terror auf dieser Welt will solche gesellschaftlichen Systeme überwinden. In diesem Zusammenhang erleben wir eine hilflose Renaissance des Militärs, das seine alte Schutzfunktion längst eingebüßt hat. Trotz eminenter Rüstung und absurder technologischer Überlegenheit gelingt es nicht mehr, Konfliktherde einzudämmen oder gar zu pazifizieren. Das neue Paradigma, das von den Taliban etabliert worden ist und heute völlig wahnsinnige Selbstmordattentäter in Serie produziert, ist mit den historischen Logiken von Krieg und Frieden nicht zu bändigen. Wir sind an einen Punkt gelangt, an dem es ans Eingemachte geht.

Repression und falsche Versprechen können keine Instrumente mehr sein. Eben­­so­wenig Heuchelei und Bigotterie. Politik muss sich im 21. Jahrhundert ehrlich machen. Das heißt in der Flüchtlingsfrage, dass die Ursachen von Flucht und Vertreibung nachhaltig zu bekämpfen sind, auch um den Preis, dass der eigene Einfluss auf be­stimmte Regionen, Rohstoffe und Ressourcen sinkt. Das Gesetz der großen Zahl, das nun Realitäten schafft, bedroht die Selbstbestimmung aller. Naivität und Rhetorik helfen nichts. Wir werden unseren Wohlstand teilen oder ihn verlieren.

Beste Grüße aus Bonn, Ihr Reinhard Nenzel, Chefredakteur

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