Aus­ga­be 1/2 • 2021

Gewisse Großzügigkeit

Editorial

Irritierende Ambitionen
vorschriftsmäßig vergeigt

Deutschland hat gewählt und erwartet eine neue Regierung, doch dem Aufbruch wohnt kein Zauber inne. Weder gab es eine Wechselstimmung noch sehnte sich die Mehrheit nach großer Veränderung. Klima hin oder her. Die Siegerparteien des Urnengangs tragen die Lorbeeren aus Versehen. Was wie ein Erdrutsch im Stimmvolk wirkt, von Mitte links schwarz nach Mitte links rot, ist kein Votum für eine radikalere Politik, sondern Ausdruck des Unmuts darüber, wen die CDU als Aspiranten für das Kanzleramt aufgeboten hat, wobei sie es nicht unterließ, gleich mit zu kommunizieren, dass sie keine Führungsreserve hat, Geschlecht egal. Der naturfrohe »Ritter wider den tierischen Ernst«, der diesen Aachener Karnevalsorden 2020 wegen seines »feinsinnigen, tiefgründigen rheinischen Humors« empfing, verkam an der Erft zum falsch lachenden Ritter von der traurigen Gestalt, der uns quälende Wochen mit seiner Beharrlichkeit in allen Dingen, die ihm nützen, an seiner Inkompetenz als Zukunftsgarant der Republik teilnehmen ließ. Zurück blieb, dass es ihm, dem notorischen Zusammenführer, Gräbenüberwinder, Spaltenschließer und Versöhner, um die Menschen geht. Dabei bahnte sich das Missverständnis mit seiner Person bereits an, als die Christliche Union zuletzt ihren neuen Oberhirten suchte. Schon in dieser Kandidatenkür fiel auf, dass die Kontrahenten Friedrich Merz und Norbert Röttgen Männer für Finanzen und das Auswärtige sind, immerhin zwei politische Fächer mit Gewicht, während Armin Laschet auch hier verbindlich unverbindlich war. Dabei hätte es doch eine Stellenbeschreibung geben können, etwa: Frau Merkel in weiten Teilen plus minus dies und das, am liebsten mit etwas mehr Temperament und etwas mehr Visionen in der Führung dieses Landes. Moderieren, austarieren und in der Balance halten, ist ja schön, aber nicht das Profil für herausfordernde Zeiten, in denen viele unpopuläre Entscheidungen zu fällen sind. In einem Unternehmen hätte man gesagt, er ist ganz nett, aber ihm fehlt Format.

Die Abnutzungsschlacht mit Markus Söder inszenierte dasselbe Stück, in dem erneut das Undefinierte diesmal gegen wendiges Machtgehabe gewann, wobei keinem von beiden eigentlich zu wünschen war, die heimischen Pfründe aufzugeben, um nach Berlin zu ziehen. Danach blieb auch der Wahlkampf inhaltsleer, so dass Olaf Scholz nichts anderes tun musste, als von Lars Klingbeil strategisch klug gecoacht, einfach nur zu lächeln und mantraartig zu wiederholen, er könne es und er wolle es. Er musste gar nicht besser sein, weil niemand schlechter sein konnte.

Ähnlich leichtgewichtig auch Frau Baerbock und ihr alter ego Robert Habeck, die ihre Ansprüche, das kommende Kabinett zu bilden, solange von sich selbst betört pflegen durften, wie klar war, dass es nie zum Äußersten kommt, da sie als Juniorpartner in einer konservativ-grünen Koalition den nachrangigen Vizeposten besetzen würden. Peinlich wurde es dann, als diese als ausgemacht geltende Konstellation unmöglich wurde. Bis dahin aber wurde von der kecken Frontfrau mit vielen kleinen Enttäuschungen nachhaltig Nimbus verspielt. Warum muss das passieren?

Jeder Mittelständler prüft seine Kinder, Bereitschaft vorausgesetzt, auf Eignung, später einmal in die Generalverantwortung zu gehen. Und diese Überlegungen sind mutmaßlich streng. Nicht die Umstände sollten zählen, sondern die Statur.

Beste Grüße aus Bonn, Ihr Reinhard Nenzel, Chefredakteur

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