Editorial
Neue Normalitäten im Zeichen der Corona-Krise
Aha schreibt man par ordre der Bundesregierung jetzt AHA, was freilich noch eine der kleinsten Änderungen des Alltags ist. Das Robert-Koch-Institut ist zum alles beherrschenden »Think Tank« geworden und die leitenden Virologen der Republik sind in den Rang alter Hohepriesterkasten aufgestiegen. Es wird geraunt, gemutmaßt und gewarnt, mitunter geweissagt und gehofft, wobei alle Experten wissen, dass man nichts Verbindliches weiß. Die Erfahrungswerte der Vergangenheit sind nur bedingt zu brauchen. Gleichwohl gibt es einige Gewissheiten von Gewicht, die dafür sprechen, sich vor Infektion zu schützen, da es schwere, sehr schwere und letale Verläufe gibt, außerdem nachlaufende Beeinträchtigungen und Beschwerden, die hässlich und womöglich kaum reversibel sind. Mit etwas Pech also kein Glück.
Gefragt sind folglich Vorsicht, kluge Verhaltensweisen und praktische Vernunft. Da die Trias gemeinsam hat, zurückhaltend in mancherlei Hinsicht zu sein, unterbleiben viele Dinge, die wirtschaftliches Handeln treiben und sonst Lebensfreude bedeuten. Alles aber, was es nicht gibt, geht auch in keine Erfolgsstatistik und keine Gewinnrechnung ein. Das kapitalistische Modell, das auf Angebot und Nachfrage baut, auf Kaufkraft und Konsum, auf globale Arbeitsteilung, Wertschöpfungsketten und Logistik, auf das Internet als bequemes Bestellmedium und auf immer frisches Kapital, das die Bruttoinlandsprodukte und die Börsenkurse froh eskalieren lässt, dieses Modell hat sich im Namen der Pandemie Ratlosigkeit einzugestehen. Denn selbst, wenn es bald einen wirksamen Impfstoff gibt, müsste er erst noch in ausreichenden Mengen verfügbar sein und in ausreichenden Mengen verabreicht werden. In diesem Zusammenhang wäre ein weiteres Jahr nichts. Was aber wird, wenn es dazu nicht kommt oder wenn sich COVID-20 oder COVID-21 verbreiten?
Indessen erkennen wir jetzt schon, dass das, was unter Menschen in geschlossenen Räumen geschieht, obsolet sein kann, wobei es genug Anlässe und Monate gibt, in denen wir Dächern und Wänden dankbar sind. Genau genommen findet sogar das meiste »indoor« statt. Wer also die Minuten zählt, bis wir wieder unbefangenen Umgang pflegen, versteht die Dimension der Herausforderung nicht. Solange jeder jeden unbemerkt gefährden kann, ist eine neue Normalität zu erfinden, einzuführen und zu gestalten. So, wie wir nach Epochen der Quarzerei Rauchverbote erfahren haben, nun das fossile Zeitalter beenden und Tempo-30-Zonen etablieren.
Der Fortschritt auf Sicht kann demnach durchaus nicht in der Rückkehr zur Ausübung von Freiheiten, sondern im Erlernen nachhaltiger Beschränkungen bestehen, deren Umfang und deren Ausprägungen wir uns vielleicht noch gar nicht vorstellen können. Damit aber verändert sich die Rolle von Vater Staat, der als Hüter der Gesetze und der Gewalt, als Kontrolleur ihrer Befolgung im digitalen Zeitgeist der »Tracker« und »Apps« zu einer Datenkrake ungekannten Ausmaßes wird. Wir werden uns noch wundern, was uns diesbezüglich blüht, zumal die Beschneidung des Privaten mit plausiblen Gründen, die wir sogar teilen, gerechtfertigt werden wird.
Mein Mann der Stunde übrigens ist Gentleman-Boxer Henry (Maske). Als Idol eines ausdauernden Kämpfers einer, der auch hartnäckige, tückische Gegner besiegt.
Beste Grüße aus Bonn, Ihr Reinhard Nenzel, Chefredakteur