Aus­ga­be 6 • 2012

Typischer Sündenbock

Editorial

Keine Krokodilstränen über weniger Konkurrenz
Es ist nicht das Papier. Es ist die Notwendigkeit. Was nichts kann, kann weg. Oder wie Heribert Juchems, der letzte Generalsekretär der ASU in Bonn, manchmal sagte: Der Markt hat immer Recht! Was in anderen Zusammenhängen zwar nicht stimmt, hier aber hin­ge­hört. Worüber reden wir denn? Über eine ausgemergelte Tageszeitung in Frank­furt, die von der Legende zehrte, sie hätte eine Vergangenheit als linksliberales Organ. Offenbar kein Wert mehr an sich! Von einem den Angelsachsen nach­gemachten lachsfarbenen Hamburger Flatterblatt, der FTD, das an der Mär verstarb, es sei frischer und frecher als andere. Ja, und? Im selben Haus wurden auch Zeitschriften im Wirtschaftssegment gemacht, die kess Zielgruppenambitionen vertraten. Kostet ja nichts, pro forma für Unternehmer und ihre Themen zuständig zu sein. Glauben einem ja die Werbeagenturen, so das Kalkül. Tun sie auch, weil sie sowieso fast alles glauben, bloß nicht die Realität. Hauptsache starke Muttermarke, also risikoarm zu verargumentieren. Dabei gibt es noch mehr Branchenopfer, die es nur selbst im Tod nicht zu Anzeigen schaffen.Die Begründungen für die lange überfälligen Einstellbeschlüsse sind alle gleich: Nach langen Jahren schwacher Aufklärungskraft und starker Verluste fehlt Großverlagen offenbar ein neues Strategiemodell. Man ist am Ende des Letternlateins. Die Analysen muten hilflos an: Das neue Online-Echtzeitmedium bedrohe das klassische Geschäftsmodell. Gedrucktes sei heute zu langsam geworden. Und Qualitätsjournalismus zu teuer. Was für eine Oberflächlichkeit! Als ob Tempo wichtiger wäre als Relevanz. Als ob ein einziger kluger Gedanke mit der schieren Menge getwitterten Unsinns konkurriere! Richtig ist und bleibt: Gib Deinen Kunden, was sie wollen, aber eben nicht nur ungefähr und irgendwie, sondern gib es ihnen zuverlässig und besser als der Rest der Welt. Gib ihnen das, was sie brauchen und suchen und speise sie nicht mit mentalem »Fast food« ab. Tue nicht so als Journalist, als ob Du die Komplexität der Dinge und Daten noch deuten könntest, indem Du eherne Lehrsätze der BWL und der VWL bemühst. Die Zeiten der mechanischen Welterklärung sind vorbei. Versuche lieber, die Menschen, ihre Prioritäten und ihre Motive zu verstehen, zumal bei Wirtschaftsakteuren. Und in der Politik übrigens auch. Die Rechenkünstler aller Rettungsschirme werden die Pleite unseres Währungsraums noch über viele Refinanzierungstermine hinweg auf Wunsch mit virtuellem Geld prolongieren. Was sie ebensowenig wie ihre Finanzminister, Ministerpräsidenten, Prä­sidenten und Kanzler können, ist, reale Haushalte nachhaltig zu konsolidieren. Wenn man das verstanden hat, muss man nicht mehr jeden Kunstgriff mitverfolgen, auch nicht im Internet.

Machen wir uns also nichts vor: Der wichtigste Faktor in der Globalisierung ist Zeit. Ein immer knapper werdendes Gut, das kaum noch jemand hat, der beruflich eigene Entscheidungen tref­fen soll. Zeit, die kaum noch Muße kennt und bewusster gewidmet werden will. Hier schließt sich der Kreis. Schlecht positionierte Presseprodukte werden mit Community-Konzepten à la »Ich hab da was, was Dich angehen könnte«, konkret, mit irgendwelchen News aus dem kruden Innenleben von Banken und Konzernen, kein Geld mehr verdienen. Aber halt  auch Plattformen nicht, die dasselbe digital probieren. Und schon gar nicht, wenn sie Marke­ting und PR verbreiten. Nicht der Kanal ist das Problem, sondern die Wahrheit und die Bedeutung der Ware. Kurz, die Haltbarkeit der Fakten. Früher hätte man gesagt: Wenn Medien eingehen, fehlen Meinungen. Heute, da jedes Würstchen mit Netzzugang seinen Senf un­nö­ti­gerweise interaktiv dazugeben kann, ist man geneigt, für weniger Meinung, egal von wem, dankbar zu sein. Die gute Nachricht ist, dass das eitle Printgeschäft, in dem tote Titel lange ewig lebten, sie nun ökonomisch bestattet. Die frisch Verblichenen mögen in Frieden ruhen.

Beste Grüße aus Bonn, Ihr Reinhard Nenzel, Chefredakteur

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