Dieser Tage bekam ich Post, richtige Post, also im Kasten. Ein schöner, schwerer Briefumschlag, Normalformat, mit handgeschriebener Adresse. Absender: Meine Kirchengemeinde, preußisch uniert, also reformiert, heißt evangelisch. Nun gut. Nicht, dass ich mich als verlorenes Schaf bezeichnen würde, aber wir korrespondieren normalerweise nicht. Ein spezieller Anlass stand nicht im Raum, dachte ich zumindest. Innen drin eine erlesene Klappkarte mit viel vorgedrucktem Text, unterschrieben von der jungen, intellektuellen Pfarrerin, die ich ob ihrer klaren Gedanken sehr schätze. Sinn der Sache: Eine persönliche Einladung zu einem Gottesdienst mit nicht alltäglichem Thema demnächst, so dass sie denke, mich als Teilnehmer ködern zu können. Ich dachte erstmal uijuijui, sind wir schon so weit, dass wir ein exklusives Kundenmailing machen? War es nicht früher so, dass man selbst die Initiative ergriff, den Weg zum Haus des Herrn zu suchen und zu finden? Zuzugeben habe ich, dass meine diesbezüglichen Bestrebungen im Laufe der Jahre nachgelassen haben, wobei ich mich der Gemeinde und ihren Repräsentanten durchaus verbunden fühle. Ich bin weder ausgetreten noch auf der Flucht vor religiösen Übungen. Ich mache es wohl eher mit mir selber aus und weniger im Rahmen fester Riten. Würde ich befragt, nähme ich Zeitnot in Anspruch, was, auch zugegeben, nie stichhaltig ist, sondern in aller Regel eine implizite Entscheidung, anderem den Vorzug zu geben.Jedenfalls ging ich dann hin und traf in einem Kirchenschiff von 1910, das für 250 Fromme ausgelegt ist, auf harten Bänken, die mir freundlicher in Erinnerung waren, knapp 40 Menschen an, die allermeisten in meinem Alter. Außer den dienstverpflichteten fünf Halbwüchsigen, die später sehr akkurat eine Batterie Teelichter entzündeten, kein junger Mensch, kein Paar, keine Kinder, kein Querschnitt durch die bürgerliche und die salonlinksalternative Welt vor Ort. Statt dessen im Sitzbild Vereinzelung, in der regungslosen Mimik der kleinen Menge Freudlosigkeit, Restroutine im Raum, dünner Gesang mit drei Stimmen laut, wie gewöhnlich in drei Tempi, von unten kühl und knarzend. Die Predigt souverän, Leben und Sterben in schweren Worten, aus dem vollen Vorrat biblischer Verse schöpfend. Es war alles da, aber es blieb fern und metamäßig. Es stellte sich nichts ein, obwohl ich wollte.
Auf dem Heimweg habe ich mir Gedanken gemacht, was mich da irgendwie nicht erreicht, was anders geworden ist, in der Aura des Anlasses und in meiner Haltung. An dieser Stelle biege ich gedanklich ab, weil es eigentlich nur um die Symptome und um die Ursachen geht, warum etwas, was einmal unbestritten in seiner Angebotsform war, trotz vorsätzlicher Modernisierung des Redens über den Markenkern fremd wird, gewissermaßen ernüchtert und stillschweigend seine Attraktion verliert. So ähnlich geht es beispielsweise ja auch gerade der SPD und so geht es in der Wirtschaft überholten Produkten und aus der Zeit gefallenen Dienstleistungen.
Als Erklärung anzubieten hätte ich, dass Stimmigkeit abhanden kommt, mehr jedenfalls als Sinn und Nutzen. In einer Welt, die das Neue, noch nicht Dagewesene zum Fetisch erklärt, weil die ständige Erfindung ewigen Fortschritt verspricht, verliert Statisches, das sich in seiner Bedeutung treu bleiben will, auch wenn es gut ist und zeitlos gebraucht wird, Akzeptanz. Sein könnte, dass wir zu gegenwärtig sind.
Beste Grüße aus Bonn, Ihr Reinhard Nenzel, Chefredakteur