Aus­ga­be 4 • 2010

Dreieinigkeit in München und Berlin

Editorial

Ein kleiner Rückblick auf ein großes Ereignis
Nein, heute mal nicht Krise. Die ist momentan vorbei. Die Grundfesten des Abendlandes, Amerikas und Asiens stehen noch. Der Wirtschaft laufen laut Medienberichten die Auftragsbücher zu. Der Euro macht den Dollar wieder platt. BP hat das Loch im Golf von Mexiko gestopft. Christian Wulff ist unser aller Generationen Bundespräsident und sieht als jugendlicher Held vor Schlosskulisse richtig klasse aus. Gemessene Gedanken und verhalten gute Laune kann er auch. Das ist alles eine Frage der natürlichen Langsamkeit von Reaktionen und Bewegungen. Wenn sich das ständig Bedächtige dann noch mit einem kleinen Lächeln vermählt, hat jedes vernünftige Volk seinen gefühlten Monarchen gefunden. Gauck hätte ja vielleicht doch zu viel Nachdenklichkeit verbreitet und der Seele der deutschen Mittelschicht zu wenig Balsam verabreicht. Die steht ja immer irgendwie unter Rechtfertigungsdruck, in allem, was sie tut, korrekt zu sein. Eigentlich langweilig. Es kann ja auf die Dauer ohnehin sehr strapazieren, im Wege der Selbstläuterung durch ständige Arbeit an den eigenen Ressentiments wirklich ein besserer Mensch zu werden. Überhaupt: Die Nachrichten sind bundesweit und weltweit wieder positiv, sieht man von der einen Dauerbaustelle in Afghanistan ab. Die Angst hat Urlaub. Selbst die demographische Entwicklung macht richtig mit und verleiht dem deutschen Arbeitsmarkt schon in der kürzeren Perspektive redbullartig Flügel. Schön, dass alles Schlechte also auch sein Gutes hat. Das ist das Wesen der Dialektik: Dass nichts nur ist, was es scheint, sondern stets auch ein ganz anderes, was sich nur nicht immer leicht und gleich erschließt. Insofern darf man durchaus genießen, dass es gegenwärtig politisch und ökonomisch nicht ganz so schlecht läuft, zumindest für die, die einem das gern erzählen. Deren Zahl nimmt zu.Zu sprechen aber ist noch einmal kurz von der WM in Südafrika, die für den bekennenden Fan neue Maßstäbe setzt. Das fängt damit an, dass mir die Vuvuzelas jetzt noch jederzeit stechenden Fantomschmerz auf der Höhe von Hammer und Amboss bereiten und hört damit auf, dass ich das Tippspiel unserer Redaktion als anerkannter Sachverständiger dieses Sports mit peinlich wenig Punkten auf dem letzten Platz beendet habe. Die Schmach von Cordoba ist nichts dagegen. Was mich trösten könnte, wäre, dass es anderen anerkannten Sachverständigen dieses Sports in meinem erweiterten Bekanntenkreis genauso erging. Allenthalben war die Rede davon, dass völlig Unkundige, die Ecken nicht von Elfern unterscheiden, bisweilen sogar junge Frauen, die Jogi Löw mit Puh dem Bär und Lukas Podolski mit Lukas dem Lokomotivführer in Verwechslung bringen, mit der ganzen Grandezza approbierter Ahnungslosigkeit sogar seriell zutreffende Vorhersagen gemacht hätten. Das kann ja gar nicht sein und konnte dann doch. Das gibt einem alten Ballverehrer wie mir, der noch von Rudi Michel, Ernst Huberty und Heribert Faßbender an die Abseitsfalle herangeführt wurde, Rätsel auf. Das Schreckliche daran ist, dass sich bei 64 Resultaten die vorschnelle Ausflucht »Zufall« verbietet. Hier waltet bei den Totokönigen ein System. Hier liegt etwas Regelhaftes vor. Ein obskures Geheimnis, das zu kennen offenbar auf breiter Front Wettbewerbsvorteile bringt. Täte es nicht so weh, würde es fast erforderlich sein, bei dem obsiegenden Junggemüse nachzuforschen, welche Eingebungen es in den Stand versetzten, zuverlässig zu ahnen, dass eine einst glasklare Paarung wie Spanien gegen Schweiz zum Wohle Ottmar Hitzfelds abgepfiffen wird.In meiner Not hatte ich mir eine Theorie zurechtgelegt, um mich zu entlasten. Ich sagte, dass der Fussball, den ich kenne, nicht mehr der Fussball ist, den man heute international spielt. Im Zuge der Globalisierung gibt es weltweit dieselben Standards. Tordrang, Technik, Taktik gleichen sich an. Das zeigt mir jetzt bloß nur, dass ich anders offen für die Zukunft sein muss.

Beste Grüße aus Bonn, Ihr Reinhard Nenzel, Chefredakteur

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