Aus­ga­be 5/6 • 2010

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Editorial

Merkwürdigkeiten des indifferenten Zeitgeistes
Nie und nirgendwo hatte Thilo Sarrazin, der Don Quichotte des küchensoziologischen Fachs, so recht, wie im Titel seines neuen roten Buches: »Deutschland schafft sich ab«! Nur halt ganz anders, als der Mahner dann statistikgetrieben wilde Wurzeln aus der Summe seiner Vorurteile und Phobien zieht. Die Millionen sozial schwacher und die Millionen muslimischer Menschen, die er sich als Erreger denkt, die unsere Gesellschaft von unten her verblöden, verkranken und vertilgen, sind in ihrer Mehrheit tatsächlich kaum die, denen es vergönnt sein wird, die geistig-moralische Führung einer dritten industriellen Revolution zu übernehmen, die unsere Welthandelsmacht zukunftsorientiert an Haupt und Gliedern erneuert. Diesen Job müssen ganz andere machen, die heute schon sehr viel besser gebildet in gut bezahlter Position in Politik, Kultur und Wirtschaft Verantwortung tragen, wobei es in einem demokratischen Gemeinwesen vornehmlich zu dieser Beauftragung zählt, Bürger jedweder Herkunft nicht wegen privater Merkmale zu stigmatisieren oder generell zu polarisieren. Fast hätte ich sogar Bürgerinnen und Bürger geschrieben, um klar zu machen, was ich meine. Chancen, schlau zu werden, und Chancen, durch Leistung aufzusteigen, müssen frei verfügbar sein. Daran bemessen sich die Humanität und der Reifegrad herrschender Klassen und Klientele. Richtig ist aber auch, dass teure Ressourcen zu schade sind, um jedem Sancho Pansa, der schulpflichtig ist, seinen Einstein entlocken zu wollen. Hier fragen wir alle linkslustigen Verfechter der These, Intelligenz könne durch pädagogische Intensivbetreuung und Barrierelosigkeit des akademischen Raums erwachsen, zu recht: Ist Romantik heilbar? Vernünftiger ist der Realismus, dass Begabungen und Talente anscheinend verschieden verteilt und weckbar sind. Verkehrt sind Ressentiments. Zudem fehlt bei Herrn S. jedwedes Motiv, was bitte ihn gestochen haben könnte, sich wie geschehen zu blamieren, und was er damit will. Mit Eva Hermann, der ehemaligen Nachrichtenfee vom NDR, gab es dasselbe Problem. Auch sie ein Pseudoplacebo, was sonst?Spannender ist, was sich derzeit auf der Berliner Bühne tut. Zwar keine Selbstabschaffungsübungen nach Sarrazin, aber Auflösungserscheinungen, die beunruhigen dürfen. In Diffusion befinden sich die vertrauten bundesrepublikanischen Strukturen, zumindest die der Parteien. Seit die SPD als Siegmar Gabriel mit angestrengter Miene Unverbindlichkeit verkauft, blieb zwar der Totalabsturz in der Wählergunst aus, aber es wurde auch kein Rückgewinnungstrend von der Fahne gegangener Rotkreuzchenmaler gesetzt. Die Grünen grüßen gleichauf, da sie das derzeit am besten positionierte Top-Management haben und weil die ausgeprägte Klimaangst eine ausgeprägte Energieangst ist, die eine ausgeprägte Anti-Atomkraft-Angst ist, wobei unklar ist, woher der satte Zulauf kommt. Die CDU lässt sich nach ihrem Aderlass verbrauchter Spitzenkader gerade sagen, dass sie gar nicht mehr konservativ sei, als ob sie dies nach Helmut Kohl, dem letzten Wachmann der Geschichte, mit Merkel überhaupt noch gewesen wäre. Insofern scheint das ehrwürdige Wort »konservativ« mittlerweile auf die Reserveliste des Dudens zu dürfen. In einer globalen, strikt ökonomisch motivierten Welt wäre Markentreue noch ein alter Wert oder »Nationales Interesse« oder ins Symbol gesetzt, Billy-Regale im Reihenhaus, während Glaube, Heimat, Muttersprache, Vaterland und Volksmusik aus falscher Fortschrittlichkeit längst nicht mehr sind, was sie womöglich nie nur wahrhaftig waren. Politischer »Mainstream« ist eine überbreite Mitte mit konturlosem Personal, in der alles Wirken und Wollen, egal von wem, nur noch Reform, also progressiv ist. Vor diesem Hintergrund zeigt das Einerlei des Bestrebens an der Spree an, dass es nicht um billige Sündenböcke für bedrohtes Deutschtum à la Thilo geht, sondern um den repräsentativen Verlust von Identifizierbarkeit und Identität. Die Volksvertreter kennen keinen Herrgottswinkel mehr.Beste Grüße aus Bonn, Ihr Reinhard Nenzel, Chefredakteur

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