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Aus­ga­be 10 • 2010

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Editorial

Kleine Schlittenfahrt mit Guido Westerwelle
Es sind ja verrückte Zeiten: Seit wir die Klimawandeldebatte haben, besinnen sich die Jahreszeiten wieder auf ihr Wesen. Dieser Winter ist jedenfalls kalt, auch gefühlskalt, könnte man sagen, zumindest für den ein oder anderen. Wie sonst wäre zu erklären, dass sich die Menschen abwenden von einer kleinen Partei, die eigentlich ganz große Themen besetzt, womit die FDP strukturell freilich nicht alleine ist. In Köln träumen ewige Tünnesse ja auch sofort von der Meisterschaft, sobald der 1. FC nicht Tabellenletzter, sondern Vorletzter ist. Was Wolfgang Overath, die alte Mittelfeldlegende, als Präsident jederzeit kann, nämlich neues Spitzenpersonal für den Vorstand zu rekrutieren, was ihm mit Volker Finke, einem Fachmann für klamme Kassen, für den Managerposten gerade gelang, können Hans-Dietrich Genscher und Walter Scheel, die grauen Eminenzen der Blau-Gelben, eben nicht: Ihren Spielertrainer im Vorsitz, in der Vizekanzlerschaft und im Außenamt auf Druck der Kurve mit Abfindung zu entbinden und ihn durch einen Nachfolger, der neues Format verspricht, zu ersetzen. Aber warum sollten die beiden Grandseigneure das denn auch? Sie haben schließlich seinerzeit nicht unwesentlich an der Bestallung des geborenen jungen Mannes mitgewirkt, der »Junger Mann« halt am besten kann, wobei auch das nicht wirklich. Was dem ewig aufstrebenden Musterschüler abgeht, ist immer und stets dasselbe und leider mehr als nur ein Mangel an Bestimmtem: Was fehlt, ist der Grund. Warum soll jemand, der alles, was er sagt, wie gerade auswendig gelernt sagt, überhaupt einen Posten besetzen, der Menschen für eine Sache begeistern soll? Warum soll jemand, der von Kindesbeinen an als Allzeitfunktionär weder das Leben noch nachhaltige Niederlagen, wie sie sich Erwachsene beibringen, kennt, Pflichten und Verantwortung für eine Sache übernehmen? Nicht einmal der bereits zitierte 1. FC käme auf die Idee, einen Podolski mit Gipsfuß aufs Feld zu schicken, nur weil der selber dringend will und meint, er kann.

Westerwelle wäre in seinem altbekannten Missverständnis eigenen Vermögens und des vermeintlichen Bedarfs an seiner Ausübung, eine tragische Figur, wenn die Voraussetzungen erfüllt wären, nämlich Teil eines übermenschlichen Konflikts (mit den Göttern) zu sein. Das liegt so nicht vor. Die Realität ist viel profaner. Wo Persönlichkeiten nicht als Konkurrenz zur Verfügung stehen, bricht sich notorischer Wille zur Macht seine Bahn. Und wo die Personaldecke so dünn ist, dass sie nicht mal als Laken taugt, muss man sich nicht wundern, dass die autohypnotische Fehlwahrnehmung entstehen kann, man sei zum Alleinentscheider berufen. Jemand, der jahrelang ganze Wahlkämpfe mit einer einzigen Floskel bestritt, die Nummer mit der Steuersenkung, und das so laut, dass man für jede andere Themenidee dankbar gewesen wäre, hat halt keine Freunde mehr, wenn er Wahljahr um Wahljahr nicht liefern kann. Das ist wie mit dem Musikgeschmack. Hunderte Kleinkünstler hatten genau einen Hit, zu genau einer Zeit, die für diese Töne empfänglich war. Größere Klangkörper fallen durch Wiederholungen des Erfolgsmusters unter anderen Umständen auf. Die wirklich Großen aber auch in diesem Geschäft, entsprechen dauerhaft dem Bedürfnis, mit ihren Mitteln glaubhafte eigene Antworten auf die Fragen zu geben, die sich ihre Fangemeinden stellen. Ein leuchtendes Beispiel in der Politik ist Helmut Schmidt, der Altkanzler mit Rauchmarotte, erfrischend unkorrekt in diesem einen Punkt, der sonst in allem, was er verlautet, klug, human und vernunftgetrieben ist. Vernunft als Summe vieler richtiger Gedanken, die auf viel Erfahrung und auf viel Verstehenkönnen beruhen. Keine Allüren. Keine Petitessen. Keine Phrasen. Jeder Satz neu. Jeder Satz adäquat. Jeden Tag. Das ist charakterlich fundierte Qualität, die keine Stimmungen auf Parteiversammlungen, in Hinterzimmern oder in der Bevölkerung bedient, sondern einem Ideal des richtig bedachten Handelns für sich und die Welt verpflichtet ist. Oh my boy!

Beste Grüße aus Bonn, Ihr Reinhard Nenzel, Chefredakteur

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