Westerwelle wäre in seinem altbekannten Missverständnis eigenen Vermögens und des vermeintlichen Bedarfs an seiner Ausübung, eine tragische Figur, wenn die Voraussetzungen erfüllt wären, nämlich Teil eines übermenschlichen Konflikts (mit den Göttern) zu sein. Das liegt so nicht vor. Die Realität ist viel profaner. Wo Persönlichkeiten nicht als Konkurrenz zur Verfügung stehen, bricht sich notorischer Wille zur Macht seine Bahn. Und wo die Personaldecke so dünn ist, dass sie nicht mal als Laken taugt, muss man sich nicht wundern, dass die autohypnotische Fehlwahrnehmung entstehen kann, man sei zum Alleinentscheider berufen. Jemand, der jahrelang ganze Wahlkämpfe mit einer einzigen Floskel bestritt, die Nummer mit der Steuersenkung, und das so laut, dass man für jede andere Themenidee dankbar gewesen wäre, hat halt keine Freunde mehr, wenn er Wahljahr um Wahljahr nicht liefern kann. Das ist wie mit dem Musikgeschmack. Hunderte Kleinkünstler hatten genau einen Hit, zu genau einer Zeit, die für diese Töne empfänglich war. Größere Klangkörper fallen durch Wiederholungen des Erfolgsmusters unter anderen Umständen auf. Die wirklich Großen aber auch in diesem Geschäft, entsprechen dauerhaft dem Bedürfnis, mit ihren Mitteln glaubhafte eigene Antworten auf die Fragen zu geben, die sich ihre Fangemeinden stellen. Ein leuchtendes Beispiel in der Politik ist Helmut Schmidt, der Altkanzler mit Rauchmarotte, erfrischend unkorrekt in diesem einen Punkt, der sonst in allem, was er verlautet, klug, human und vernunftgetrieben ist. Vernunft als Summe vieler richtiger Gedanken, die auf viel Erfahrung und auf viel Verstehenkönnen beruhen. Keine Allüren. Keine Petitessen. Keine Phrasen. Jeder Satz neu. Jeder Satz adäquat. Jeden Tag. Das ist charakterlich fundierte Qualität, die keine Stimmungen auf Parteiversammlungen, in Hinterzimmern oder in der Bevölkerung bedient, sondern einem Ideal des richtig bedachten Handelns für sich und die Welt verpflichtet ist. Oh my boy!
Beste Grüße aus Bonn, Ihr Reinhard Nenzel, Chefredakteur