Aus­ga­be 1/2 • 2023

Kaum förderlich für Wachstum

Editorial

Von der Pflicht, Dinge beim Namen zu nennen

Als Hansi Flick, der mit Bayern München alles gewann, mit der Nationalmannschaft begann, Spiele zu verlieren, wollte man es nicht wahrhaben. Wertvolle Zeit wurde mit Mutmaßungen vertan, woran es denn wohl liegen könnte. Dabei gab es wie so oft in vergleichbaren Situationen ein Denkverbot. Gründe mussten aus dem statthaften Gründekörbchen kommen, in dem alles liegt, was irgendwie entschuldbar ist. Vor allem aber durfte es weder um professionelle Unfähigkeiten noch um menschliche Schwächen gehen. Das ist ein Problem. Richtig war wohl, dass es auf manchen Positionen fußballerische Defizite gibt und dass es auch an der Einstellung hapert.

Das Setting lässt sich auf viele andere Felder in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft übertragen. Es ist regelmäßig schlecht, wenn oberste Entscheider in Systemen die Banalität von Ursachen übersehen, die mit einem übertriebenen Ressourcenverbrauch Unsinn und Ineffizienz fördern, Verschwendung tolerieren, also viel Geld kosten, und chronisch suboptimale Ergebnisse liefern. Nehmen wir als Beispiel das Gesundheitswesen. In den Medien ist zumal seit Corona fast nur vom Mangel und von Überlastung die Rede, von aufopferungsvollen Akteuren, die sich für einen Obulus der Kassen Tag und Nacht im Einsatz verzehren. Im richtigen Leben regeln sich die Praxen, die Kliniken, die Ärztinnen, Ärzte, Schwestern und Pfleger jedoch selbst herunter, da sie trotz kaufmännischer Leitung von Krankenhäusern und frei verfügbarem gesundem Menschenverstand offenbar blind für die gigantischen Optimierungsmöglichkeiten sind, in denen sie hantieren. Größere Häuser leisten sich Subunternehmen für die Reinigung und die Security, aber auch Subunternehmen, die Betten über die Flure verrollen, und Subunternehmen, die dreimal am Tag recht arme Kost verteilen, die Subunternehmen aufbereiten und die höchst umständlich vorzubestellen ist. Konzernartige Strukturen, die im Organigramm funktionieren.

Am Patienten wird gemacht und getan, was das Zeug hält, Blutdruck, Zucker, Cholesterin, aber auch mit phantastischer Apparatemedizin. Ein CT hier und ein MRT da. Hier (aber auch nur hier) ist es wie in der Industrie: Kapazitäten wollen ausgelastet sein, nur dass nicht unbedingt ein Wert entsteht. Was bei all dem Stückwerk der verschiedenen Abteilungen und Stationen schließlich fehlt, ist die integrierende Sicht auf die Dinge. Am Ende gibt es Daten ohne Ende, notwendig erhobene, sowie viele, die sich der ständigen Abklärerei und anderem Aktionismus verdanken. Eine Kaskade lateinischer Termini, die viel Deviantes und wenig Relevantes beschreiben. Hinzu kommen unspezifische Unterlassungen: Überall brennt auf kilometerlangen Gängen 24 Stunden Licht und die Mülltrennung ist auch ein Thema.

Woran es fehlt, ist der Mut zur nüchternen Bewertung von »soll« und »ist«, nicht der Legenden, die im öffentlichen Diskurs die Oberhand haben. Dazu gehört auch das Zeitmanagement im System, also die vermeidbare Warterei, und die Verfügbarkeit der Führungskräfte für wirklich Wichtiges bzw. ihre Auslastung mit angemessenen Aufgaben. Letzteres gilt auch in Unternehmen. Mag sein, dass Meyer früher performt hat, aber wenn er es heute nicht mehr tut, sollte dies Konsequenzen haben. Das Fazit ist: Die Praxis ist stärker als die Theorie. Und wenn Julian Nagelsmann demnächst auch nur verliert, könnte es an Spielern oder am Trainer liegen.

Beste Grüße aus Bonn, Ihr Reinhard Nenzel, Chefredakteur

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